Explosion eines Munitionslagers in der Eifel:

Als der Himmel "blutige Tränen" weinte

Von Wolfgang Brenner, Spiegel Geschichte • 15 Juli 2019


Vor 70 Jahren wurde die Eifelstadt Prüm durch eine riesige Detonation zerstört. Rotgelber Gesteinsstaub legte sich über das Land. Die Überlebenden mussten sich verpflichten, die Schuldfrage nicht weiter zu verfolgen.

Schwarzer Freitag:  Eine Explosion verwüstete am 15. Juli 1949 die Eifelstadt Prüm. Das örtliche Krankenhaus war völlig zerstört, die Schule auch. Die 60 Verwundeten wurden in einem Gasthaus versorgt. Es sah aus wie nach dem Krieg -  schon wieder.

N ur wenige Wochen nach der Ausrufung des neuen westdeutschen Staates flog diesem seine Vergangenheit um die Ohren. Im Eifelstädtchen Prüm brach am 15. Juli 1949 kurz vor 19 Uhr ein Brand aus. Der Kalvarienberg stand in Flammen. Im Innern befand sich ein Depot der französischen Besatzungsmacht; 1939 war der Bunker als Unterkunft für Arbeiter des Westwalls errichtet worden. Die Prümer vermuteten darin alte Munitionsbestände der Wehrmacht.

Die Landesbehörden hatten jedoch den Protest gegen das gefährliche Depot ignoriert und dem Landrat geraten, sich mit Kritik an den Besatzern zurückzuhalten: "Sie reden sich um Kopf und Kragen." Als der Trierer Polizeichef und der Leiter der Landgendarmerie sich ein Bild vom Lager hatten machen wollen, waren sie von den französischen Wachen abgewiesen worden.

An diesem schwarzen Freitag nun versuchte die Feuerwehr mit 140 Mann, den Brand im Innern des Berges zu löschen. Aber sie gelangte gar nicht bis zum eigentlichen Brandherd, weil sie über keine Sauerstoffgeräte verfügte. Das Bunkersystem bestand aus einem 100 Meter langen und 60 Meter breiten Hauptstollen und mehreren Querstollen, es reichte 30 Meter tief in den Berg hinein. Als die stählernen Stollentüren glühten, zog Einsatzleiter Meyer seine Männer vorsichtshalber ab.

Zerbombtes Prüm:  Um 20 Uhr 22 explodierten 500 Tonnen Munition und jagten einen ganzen Berg in die Luft. Die Bevölkerung hatte das Unglück schon lange kommen sehen und bei der Landesregierung und den Besatzungsbehörden immer wieder um die Beseitigung des Depots gebeten - vergebens. Der zuständige Landrat Johannes Rüdel war von Ministerpräsident Altmeier zur Zurückhaltung ermahnt worden: "Sie reden sich um Kopf und Kragen."

Die Hölle brach los

Um 20.22 Uhr geschah, was die Einwohner seit Jahren befürchteten: Der Kalvarienberg explodierte. Ein Gendarmeriemeister war mit seinem Schwager zum Brandort geeilt; die Explosionswelle enthauptete die Männer im Dienstwagen. Die "Trierische Landeszeitung" schrieb am nächsten Tag von der "Hölle von Prüm". Die gesamte Oberstadt lag in Trümmern. Ausgerechnet der Straßenzug, der den Krieg unbeschadet überstanden hatte, war total zerstört. Zudem viele der gerade erst wieder neu aufgebauten Häuser, insgesamt 240 Gebäude, darunter das Krankenhaus.

"An keinem Baum, an keinem Strauch war mehr ein Blatt", berichtete eine damals achtjährige Augenzeugin aus dem nahen Waxweiler. Ein kleines Wunder: Es gab nur zwölf Tote, neun Schwerverwundete und 51 Leichtverletzte. 970 Menschen waren obdachlos geworden. Unter den Toten war auch die 72-jährige Katharina Zimmer, besser bekannt als "Zimmesch Kettchen". Sie war Ende 1944 der einzige Mensch gewesen, den die US Army in Prüm angetroffen hatte. "Zimmesch Kettchen" behauptete, die Schwester von Adolf Hitler zu sein. In Prüm nahm das niemand ernst. Aber die Amerikaner sollen etwas irritiert gewesen sein, schon kurz hinter der Grenze eine nahe Verwandte des "Führers" anzutreffen.

Heißer Sommer:  Ursprünglich wurde angenommen, die extreme Julihitze hätte die Granaten entzündet. Es gab nur zwölf Tote (ein kleines Wunder), neun Schwerverwundete und 51 Leichtverletzte. 970 Menschen waren obdachlos geworden. Die Kinder waren kurz vor der Detonation aus der Stadt gebracht worden. Eltern schützten sie vor den faustgroßen Steinen, die durch die Luft geschleudert wurden. Am Tag danach suchten die Familien in den Trümmern nach ihrem Besitz.

Hätte Landrat Rüdel kurz nach Ausbrechen des Brandes nicht die Evakuierung aller Einwohner befohlen, wäre ein Großteil umgekommen. Es gab keine Sirene, Ausrufer mit Schellen hatten die Prümer aufgefordert, ihre Stadt sofort zu verlassen. Doch einige der 2700 Bewohner blieben in ihren Kellern, wo sie zuvor fünf Mal die alliierten Bombenteppiche überstanden hatten.

Explodiert waren 500 Tonnen Munition. Das Feuerwerk hob die Spitze des Berges, auf der sich der Kreuzweg der Leiden Christi befand, um die Höhe eines Hauses an, bevor sie wieder auf den Berg prallte. Das rotgelbe Eifeler Vulkangestein wurde pulverisiert und legte sich als feiner Staub über die ganze Region. Fast eine Stunde herrschte totale Finsternis. Bis nach Trier und Koblenz war die Explosion zu hören und im Umkreis von 60 Kilometern zu sehen.

Schuldfrage und Spekulationen

250.000 Kubikmeter Gestein verteilten sich auf fast 100 Hektar, selbst im 20 Kilometer entfernten Gerolstein regnete es noch rote Vulkanerde. Die Presse schrieb von "rotem Schnee". Noch Monate später habe der Staub beim Essen zwischen den Zähnen geknirscht, berichtete 2009 eine Zeitzeugin der Lokalpresse. Die Erdbebenwarte in Stuttgart (rund 350 Kilometer entfernt) registrierte die Detonation. Die "Zeit" schrieb, es habe so ausgesehen, "als weinte der Himmel blutige Tränen".

Die luxemburgische Garnison in Bitburg und die französischen Besatzungsbehörden richteten im Hotel "Goldener Stern" eine Unfallhilfestelle ein. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Peter Altmeier und sein Wohlfahrtsminister Johann Junglas trafen noch in der Nacht in Prüm ein und organisierten eine spontane Spendenaktion.

Die Bevölkerung im ganzen Land zeigte sich betroffen von dem Unglück. Vor allem als publik wurde, dass die Prümer sich erfolglos gegen den Weiterbetrieb des Munitionslagers gewehrt hatten. Es kamen Spenden aus ganz Deutschland: Schulklassen opferten ihre Ausflugskassen, Betriebe sammelten für den Wiederaufbau. Selbst der Vatikan spendete Nahrungsmittel.

Nachkriegsruinen:  Die gesamte Oberstadt lag unter Trümmern. Ausgerechnet der Straßenzug Langemarckstraße, Stainkaulstraße und Reginostraße, in dem sich die wenigen Prümer Häuser befanden, die den Krieg unbeschadet überstanden hatten, wurde völlig zerstört. Es dauerte Jahre, bis alles wiederaufgebaut war. Finanzielle Hilfen kamen aus Trier und Rom. Nach drei Jahren titelte eine große Boulevardzeitung: "Prümer haben den Schreck überwunden.«

Die französische Besatzungsmacht zahlte der Stadt zwei Millionen Mark und verpflichtete sie, die Schuldfrage nicht weiter zu verfolgen. Umso heftiger wurde spekuliert: Von einer beabsichtigten Sprengung war die Rede, die dann außer Kontrolle geraten sei, von Fahrlässigkeit der Wachmannschaften und von einem technischen Defekt in den nur provisorisch verlegten Leitungen. Auch Sabotage wurde vermutet - wie jedes Mal, wenn in den Nachkriegsjahren ein Unglück geschah.

Ein erster Verdacht fiel auf die Wachmannschaft, eine international zusammengesetzte Gruppe, zu der viele  Displaced Persons  gehörten. Für Aufregung sorgte die Entdeckung, dass zwei Wachmänner, ein Jugoslawe und ein Ungar, kurz nach der Explosion nach Australien verschwunden waren. Die Prümer munkelten, die Wachmänner seien betrunken gewesen, deshalb seien von einem Leichnam Blutproben genommen worden. Seltsam war auch, dass der Hauptwächter des Depots, der Ungar Barany, noch mal in den brennenden Stollen habe laufen wollen. Ein Gendarm habe versucht, ihn zurückzuhalten. Beide Männer wurden im Depoteingang von Betonklötzen erschlagen.

Obdachlose Prümer:  965 Bewohner der Stadt hatten nach dem Unglück kein Dach mehr über dem Kopf und ihren gesamten Besitz verloren. Sie mussten sich das Nötigste in den Trümmerbergen zusammensuchen. Und natürlich wollten sie wissen, wieso ihre Stadt zerstört worden war. Man munkelte von einer außer Kontrolle geratenen Sprengung, vom Schlendrian der Wachmannschaften und provisorisch verlegten Elektro-Leitungen. Die Behörden vermuteten aber auch Sabotage.

Was wirklich im Berg lagerte

Ein Bekennerschreiben sorgte für Aufsehen: Eine "Kampfgruppe zur Erzwingung eines gerechten Lastenausgleichs" nahm die Verantwortung für den Anschlag im Kalvarienberg-Bunker auf sich. Angeblich wollte sie damit die Aufmerksamkeit der Welt auf die ungerechte Behandlung der Deutschen lenken. Doch nach Informationen des "Trierischen Volksfreundes" hielten die Behörden diese Spur für wenig glaubwürdig.

Erst nach dem Unglück stellte sich heraus, dass es sich bei der explodierten Munition nicht um alte Wehrmachtbestände, sondern um Sprengstoff der US-Army handelte, den die Franzosen in Prüm eingelagert hatten, um damit die Reste von Hitlers Westwall zu sprengen.

Das durch die Explosion entstandene Loch von Prüm gelangte zu Weltruhm. Er gehört mit seinen 190 Metern Länge und 90 Metern Breite zu den größten Kratern, die durch Menschenhand entstanden sind. Bis heute ist es nicht zugeschüttet. Der Krater ist dicht bewaldet und dient als Naherholungsgebiet.

 
Offener Berg: Das Bunkersystem, das die Nazis 1939 in den Kalvarienberg gegraben hatten und das im Juli 1949 in die Luft flog, hatte aus einem 100 Meter langen und 60 Meter breiten Hauptstollen und mehreren Querstollen bestanden. Es hatte 30 Metern in den Berg hineingereicht. 1949 glaubte man noch, im Stollensystem des Kalvarienbergs sei Munition der Wehrmacht gelagert. Der Bunker hatte vor dem Krieg als Mannschaftsunterkunft gedient - in der Nähe von Prüm entstand der Westwall. Bis zu 1000 Arbeiter sollen in den Stollen untergebracht gewesen sein.